Tattos und Piercing: Selbstverletzung oder Bewältigung von schlimmen Erlebnissen?

 

Zusammenfassung:

 

Wenn ein Mensch sich tätowieren lässt, wird seine Haut verletzt und seine Haut sieht anders aus als vorher. Das heißt, die Haut wird „entfremdet“. Sieht erstmal fremd aus. Eine Tätowierung ist schmerzhaft.

Durch eine Tätowierung hoffen manche Menschen, dass sie besser mit Situationen umgehen können, die sie verletzt haben: Tod eines lieben Menschen, Krankheit, andere schlimme Erfahrungen.

Sind Tattoos eine Art der „Selbsttherapie“?

 

 

Tattoos und Piercings verändern die Haut und damit den äußersten Teil des Körpers. Sie zeigen auch, was im Inneren einer Person vorgeht und verraten etwas aus dem Leben (Biographie) dieser Person. Daher können sie Aggression gegen sich selbst sein, denn ein Mensch lässt sich bewusst verletzen. Sie können dem Menschen aber auch helfen Dinge zu verarbeiten, die er erlebt hat. 

 

Was passiert beim Piercen und Tätowieren?

 

Beim Piercen wird Schmuck in Öffnungen im Körper angebracht, die dafür in Haut, Fett unter der Haut und Knorpelgewebe gestochen werden. Beim Tätowieren werden Pigmente (Farbstoffe) unter die Haut gestochen, um dauerhafte Markierungen und Design auf dem Körper zu hinterlassen. Sowohl Piercings als auch Tattoos gibt es schon sehr lange, nämlich seit es Menschen gibt. Sie sind eine gewollte, mehr oder weniger dauerhafte Veränderung des menschlichen Körpers. Ca. 8,5 % der Bevölkerung sind tätowiert, 6,8 % sind gepierct. Am weitesten verbreitet sind solche Körperveränderungen unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen (14-24 jährig) mit 27% (Männer) bis 41% (Frauen).

 

Aus empirischen Studien (das sind Studien, die praktisch untersuchen. Das heißt hier: Studien, die sich die Menschen mit Tattoos genau ansehen und sie untersuchen) an Tattoo – und Piercingträgern geht hervor, dass Körperveränderungen mit einigen psychischen aktuellen oder vergangenen Auffälligkeiten zusammen auftreten können. Dazu gehören eine erhöhte Tendenz zu Risikoverhalten und Sensationslust, Essstörungen bei Jugendlichen, Suizidalität (Selbstmordgefährdung) und emotionalem, sexuellem oder physischem Missbrauch. (emotionaler Missbrauch: Missbrauch der Gefühle, z.B. Entzug von Liebe, nicht mit jemandem reden; physischer Missbrauch: körperlicher Missbrauch, z.B. schlagen)

 

Manche Gründe, warum Menschen ihren Körper verändern (lassen) wiederholen sich. Dazu gehören: Kunst und Schönheit, der Wunsch individuell (einzigartig) zu sein und mehr Körperbewusstsein und der Wunsch „anders sein zu wollen“.

 

Damit ist Körperveränderung einerseits immer mehr Teil des Mainstreams unserer Gesellschaft. Andererseits ist Körperveränderung bei einigen Menschen auch verbunden mit psychischen Problemen. 

 

Wenn Menschen sich ein Tattoo stechen lassen, kann das sowohl Selbstfürsorge als auch Selbstschädigung sein.

 

Aggression gegen sich selbst 

Autoagression (Agression gegen sich selbst) ist eine Form von Gewalt am eigenen Körper.  Man kann sie vergleichen mit selbstverletzendem Verhalten. Damit kontrollieren manche Menschen unangenehme Gefühle. Sie versuchen damit auch ihre Angst oder Depression oder andere unangenehme Gefühle zu unterbrechen. Viele Erwachsene, die sich haben tätowieren lassen (27%), hatten in ihrer Kindheit selbstverletzendes Verhalten. Ihr Motiv für das Tattoo ist oft, dass sie Schmerz erwarten, und den Schmerz auch spüren wollen. Manche von ihnen bezeichnen sich selbst als drogensüchtig, haben medizinische Probleme. Sie werden schneller aggressiv und fühlen sich in ihrem eigenen Körper fremd oder ekeln sich vor ihrem Körper. Einzelne Menschen haben berichtet, dass sie sich nach einem Tattoo nicht mehr so schnell selber verletzen wollen. Hieraus kann man schließen, dass in einem Tattoo oder Piercing traumatische und leidvolle Lebenserfahrungen ausgedrückt werden. Oder der Wunsch dein eigenen Körper zu zerstören. Oder der Wunsch nach Schmerz. Manchmal ersetzt ein Tattoo oder ein Piercing selbstverletzendes Verhalten.

 

Selbstfürsorge

Es gibt aber auch andere Gründe sich ein Tattoo stechen zu lassen: die meisten Menschen wollen sich selbst und ihrem Körper etwas Gutes tun. Sie wollen mit ihrem Tattoo etwas von sich selbst nach außen hin ausdrücken. Sie verschönern ihren Körper und gestalten ihn. Sie geben Geld für ihren Körper aus. Sie wenden sich ihrem Körper zu. Ihr Körper wird berührt und gefühlt. Sie tun etwas „für sich“. Körperveränderung verändert das eigene Verhältnis zu Schmerz und hilft den eigenen Körper zu kontrollieren.

Menschen sprechen eher davon gepierct oder tätowiert zu sein, als davon Tattoos oder Piercings zu haben. Das spricht dafür, dass Tattoos und Piercings zur Identität von Menschen gehören.

 

Im Unterschied zum selbstverletzenden Verhalten geht es bei Tattoos und Piercings nicht nur darum sich verletzen zu lassen, sondern vor allem darum sich selbst zu verschönern und zu schmücken. 

Tattoos sind auch selbstfürsorglich, weil sich Menschen durch sie besser fühlen, sich selber positiver wahrnehmen und ihre Wahrnehmung von sich selbst durch andere bewusst verändern lassen. Sie steuern selber, was wie an ihnen verändert wird.

 

 

Tattoos als Bewältigung von Erlebnissen

 

Sich tätowieren und piercen zu lassen kann eine Strategie (ein Plan) sein, um vergangene  Erlebnisse zu bewältigen. Das wird daran deutlich, dass die Hälfte der Anwender von Körperveränderungen einen der folgenden Gründe für ihr Tattoo oder Piercing agneben:

1. Erinnerung an eine besondere Lebensphase
2. 2. Erinnerung an ein besonderes Lebensereignis (positiv oder negativ)
3. Trennung
4. Tod
5. Verlust
6. Verarbeitung einer Erkrankung oder eine Unfalls
7. Darstellung der eigenen Verfassung (das bedeutet: wie es einem Menschen geht); das kann positiv oder negativ sein.

 

Aus einer psychologischen Sichtweise (Tiefenpsychologie) kann man sagen: Menschen verschieben die Bewältigung von Konflikten auf den Körper. Sie gehen also nicht zum Therapeuten, sondern ins Tattoo-Studio.

Der Schmerz der Seele (psychischer Schmerz) wird durch die Körperveränderung in einen körperlichen Schmerz verschoben. Dieser Schmerz soll durch ein Ersatzritual (die Tätowierung oder das Setzen des Piercings) überwunden werden.

Dabei durchlebt er den seelischen Schmerz als körperlichen Schmerz und die erforderliche Versorgung der Wunden.

 

Tattoos können – gerade dadurch, dass sie unter der Haut bleiben, beständig sind, für eine Beziehung stehen, die nicht verloren gehen soll. Darauf kann man sich dann in schwierigen Phasen besinnen. (linking object)

 

Wenn Menschen sich schon in der Kinheit selbst verletzt haben, dann berichten sie nach dem Stechen eines Tattoos häufig von einem „Kick“. Oder sie erzählen, dass sie beim Stechen Macht, Kraft und Genuss empfunden haben. Der Schmerz des Tattoo-Stechens wirkt wie bei den Selbstverletzungen gegen das Gefühl der Hilflosigkeit. Das Stechen und Tragen des Tattoos oder Piercings vermittelt ihnen mehr Kontrolle über den eigenen Körper, Selbstversicherung und eine Veränderung im eigenen Leben.

Tattoos oder Piercings vermitteln auch das Gefühl „geheilt“ oder auf dem „Weg der Besserung“ zu sein. 

Einerseits vermitteln diese Aussagen, dass ein Tattoo eine erfolgreiche Unterstützung nach seelischen Krisen oder nach selbstverletzendem Verhalten sein kann.

Andererseits gibt die Hälfte der Teilnehmenden an Studien an, süchtig nach Tattoos oder Piercings zu sein. Daraus kann man schließen, dass Körperveränderungen durch Tattoos und Piercings nur vorübergehend Abhilfe schaffen. 

 

Tattoos und Piercings sind Verletzungen

Durch Tattoos wird der Körper zum Objekt gemacht, dem Schmerz zugefügt wird, wie es manchen Menschen schon vorher geschehen ist. Kritisch zu bedenken ist auch, dass es nach einem Tattoo oder Piercing medizinische Komplikationen geben kann. Oder es führt die Selbstverletzungen fort, jetzt aber auf einem Weg, der gesellschaftlich akzeptiert ist. 

 

Fazit

Letztlich hängt es vom Menschen selbst, seiner psychischen Verfassung, den bisherigen Erfahrungen im Leben und vom Schweregrad, der Anzahl und der Dauer der belastenden Ereignisse ab.